Der lange Abschied von der Prügelstrafe by Sarina Hoff

Der lange Abschied von der Prügelstrafe by Sarina Hoff

Autor:Sarina Hoff
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: De Gruyter
veröffentlicht: 2023-09-04T13:00:24.045000+00:00


5.4.1

Die Strafe als Problem der Erziehung

In der im engeren Sinne wissenschaftlichen Pädagogik blieben ausdrückliche Auseinandersetzungen mit Körperstrafen weiterhin selten. Die Rolle von Strafen in der (Schul‑)Erziehung allgemein rückte jedoch, sicher auch als eine Reaktion auf die Diskussionen um ‚Halbstarke‘ und Züchtigungsrecht des vorherigen Jahrzehnts, verstärkt in den Fokus. Nun erschienen mehrere Sammlungen, die Texte bedeutender Erziehungstheoretiker von der Antike bis in die Gegenwart über Die Strafe in der Erziehung zusammenstellten oder Das Strafproblem in Beispielen anhand von theoretischen, autobiographischen und literarischen Darstellungen spiegelten.274 Als Quellensammlungen präsentierten sie bewusst unterschiedliche Standpunkte ohne eindeutige eigene Positionierung, allerdings ist bemerkenswert, dass im zuletzt genannten Band allein sechs der 16 enthaltenen „Beispiele“ aus dem von Paul Oestreich 1922 herausgegebenen Band Strafanstalt oder Lebensschule übernommen waren.275 Der Herausgeber der erstgenannten Sammlung, Hans Netzer, konnte in seinem Vorwort zusammenfassen: „Über die Entbehrlichkeit der Prügelstrafe für die Erziehung ist man heute auf weite Strecken einer Meinung.“276

An anderer Stelle nahm Netzer selbst zu körperlichen Strafen Stellung: „Prügelstrafe als Mittel des Berufserziehers ist in jedem Falle zu verwerfen. Sie ist ein knechtisches Mittel und züchtet Knechte -- oder Aufrührer. Die Würde des Erzieherstandes hängt davon ab, daß sie, und zwar freiwillig, aufgegeben wird.“277 Nach Ton und Inhalt könnten diese Worte auch aus den späten 1940er Jahren stammen. Auch die Argumente, mit denen der Pädagoge und Psychologe Ernst Ell 1965 körperliche Strafen ablehnte, erinnern teils an noch ältere Debatten (beispielsweise, wenn er auf die Gefahr hinwies, bei Lehrern Sadismus zu wecken), vor allem aber an die der Nachkriegszeit: So findet sich etwa die für die späten 1940er typische Distanzierung von den Gewalterfahrungen der Vergangenheit auch bei Ell, wenn er aus der brutalisierenden Wirkung des Erleidens körperlicher Gewalt folgerte: „Wenn wir ein im Herzen friedliebendes Volk werden wollen, müssen wir in Elternhaus und Schule zu einer positiven Kindererziehung durchfinden.“278 In Bezug auf zu erwünschtem Verhalten führende Ohrfeigen fragte er rhetorisch: „Ist der Schüler auf dem Wege zur Selbstständigkeit gefördert worden? Hat er jetzt noch den Mut zur Kritik und zum Widerstand, wenn beide gerechtfertigt sind? Oder ist dadurch nur der Untertan wach geworden? Haben wir nicht in der jüngsten Geschichte den Fluch der Untertänigkeit drastisch erlebt?“ So nahe dieses gegen Untertanengeist gerichtete Erziehungsziel Ells dem von Heinrich Meng und anderen Autoren der Nachkriegsjahre war, gab es doch einen grundlegenden Unterschied in der Perspektive: Während unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg Pädagogen den Aufbau einer demokratischen, gewaltfreien Schulerziehung angestrebt hatten, kritisierten die Autoren der 1960er Jahre in zeittypischer Weise279 die versäumte Reform und Liberalisierung schulischer Disziplin- und Autoritätsvorstellungen im vergangenen Jahrzehnt: So fragte Ell, ob die seit einigen Jahren beklagten Erziehungsschwierigkeiten nicht auch damit zu erklären seien, dass „die Schule […] immer noch nach einer Disziplin ruft, welche früheren Zeiten angemessen war, aber aus Sicht der Gegenwart und mehr noch der Zukunft als Relikt erscheint?“280

Mit der gegenüber den 1940ern veränderten Perspektive ging auch ein anderer Stellenwert einher, der körperlichen Schulstrafen beigemessen wurde: In den Nachkriegsjahren hatte diese Frage bei Theoretikern wie Meng und bei den Vätern der hessischen und bayerischen Verbote noch als



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